Radsportverein 1925 Selzen
Wie der RSV an seine Halle kam

Von Gründung bis zum 2. Weltkrieg

Nach der Vereinsgründung 1925 wurde im Vereinslokal „Zum Schützenhof“ in einem kleinen Saal trainiert. Der Wirt Heinrich Bingenheimer war Gründungsmitglied, sein Sohn Richard war aktiver Radsportler. Nach dem Tod von Heinrich Bingenheimer wurde das Vereinslokal von dessen legendären Frau Anna weitergeführt. Im Vereinslokal wurden alle größeren Treffen des Vereins bis zur Öffnung der Radsporthalle abgehalten (Hauptversammlungen, Jubiläen, Weihnachtsfeiern etc.)

Die gute Seele des Lokals war die allseits beliebte Anna Bingenheimer, die aber auch viele Bezeichnungen, wie Modder, Wertschesen etc. trug und für die Gesellschaft bis zu ihrem Tode im Jahre 1987 eine wichtige soziale Rolle spielte. Einfach eine legendäre Person, die den Selzern noch lange in Erinnerung bleiben wird. Wer mehr über sie wissen will, der kann das alles im Büchlein von Stefan Bremler „Selzer Häuser erzählen…“ nachlesen.

Ab wann der kleine Saal im „Zum Schützenhof“ tatsächlich zu klein und dann in der 1928 erbauten großen Turnhalle des TV 03 trainiert wurde, lässt sich nicht genau festlegen. Aber in dem kleinen Trainingssaal wurde immerhin schon 1933 Radball gespielt. Möglich ist, dass bis zum Beginn des 2. Weltkrieges im kleinen Saal „Zum Schützenhof“ trainiert wurde.

Die Zeit vom Ende des 2. Weltkrieges bis zum Beschluss, eine eigene Radsporthalle zu bauen

Wegen des Krieges war die Turnhalle von 1940 bis 1950 geschlossen. Ab dem 05.06.1945 gehörte Rheinhessen zur französischen Besatzungszone. Die Besatzungsmächte hatten genaue Vorstellungen zum Aufbau von Vereinen. In Selzen gab es zunächst nur die Sportvereinigung, mit den verschiedenen Abteilungen, wie Fußball, Kegeln, Turnen (Leichtathletik) und Radfahren. Entspannung gab es erst durch den Abzug der Franzosen im Rahmen von NATO Planungen und der Übernahme der Amerikaner. 1953 bezog das 17. Ingenieur-Battalion, das zur in Bad Kreuznach stationierten 2.Panzerdivision gehörte, die „Anderson Barraks“ in Dexheim.

1950 trennte sich der Turnverein 03 von der Sportvereinigung. Neuer 1. Vorsitzender der Sportvereinigung wurde Karl Krebs, Vater vom Radsportler Norbert Krebs. 1963 verlies der Fußballverein den Sportverein. Ab da gab es dann den Radsportverein 1925 Selzen e. V. unter dem neuen Vorsitzenden Reinhold Kissinger.

Exkurs zur gesellschaftlichen Situation in Selzen

Die Hallenradsportvereine der 1920er Jahre in Deutschland wurden hauptsächlich aus dem Arbeiter- und Sportlermilieu gegründet. Der Kunstradsport hat seine Wurzeln in der Arbeiterklasse und war ursprünglich eine Sportart für die „kleinen Leute“.

Dies zu wissen ist wichtig, um die Stellung des Radsportvereins im gesellschaftlichen Gefüge der Gemeinde zu verstehen. Selzen war damals (und auch noch bis Anfang der 1980er Jahre) eine überschaubare Dorfgemeinschaft. Es gab, wie in jeder Gemeinschaft, starke, konservative Gruppenbildungen.

Es hat sich in Selzen im Laufe der vielen Jahre offenbar eine klare Hierarchie im Vereinswesen herausgebildet. Nach Gesangverein, Turnverein und Fußballverein (SpVgg Selzen), kam in der gesellschaftlichen Rangfolge mit Abstand zum Schluss der Radsportverein, mit dem geschichtlichen Hintergrund der Vereine in den 1920er Jahren. Im „oben- und unten Gefüge“ rangierte der Radsportverein ganz unten, der Verein war der letzte in der Hierarchie.

Keine gesellschaftliche Lobby, kein Ansehen und auch keine Förderung seitens der Gemeinde.

Nur Idealismus. Und das viel!

Trainingsmöglichkeiten nach dem Ende des 2. Weltkrieges

Die Trainingssituation im Schützenhof-Sälchen war sehr bescheiden. Viel zu klein, da es auch jetzt mehr Aktive als vor dem Krieg gab.

Es lässt sich nicht mehr klären, ab wann genau der Radsportverein in der großen Turnhalle trainieren durfte. Aber irgendwann bald nach Wiederbeginn des Vereinslebens nach dem Krieg war es soweit. Endlich gab es ausreichend Platz für die Fahrflächen und ein Radballspielfeld. Auch gab es Platz zum Abstellen der mittlerweile vielen Kunsträdern für mehrere Disziplinen.

DER RADSPORTVEREIN WURDE ABER IN DER TURNHALLE NICHT GLÜCKLICH.

Der Radsportverein kam sich in der Turnhalle wie ein Fremdkörper vor.

Es gab für den ungeliebten Radsportverein immer wieder Nadelstiche. Trainingszeiten wurden reglementiert, an den Rädern wurde oft die Luft abgelassen und vereinzelt Reifen zerstochen (selbst erlebt). Aus der Not heraus hat der Radsportverein auf einem Grundstück unmittelbar im Westen der Turnhalle in den 50er Jahren, eine Fahrfläche im Freien aus bestem Beton hergestellt, auf der bei guter Witterung gerne trainiert wurde. Beton bedeutete viel blaue Flecken und Schürfwunden. Aber das nahmen die Radfahrer für ihren Sport in Kauf.

Die Fläche, die unter Federführung von meinem Onkel Edwin Schniering gebaut wurde, existiert auch heute noch, nach mehr als 60 Jahren! Handwerkskunst!

Im Radsportverein gärte es wegen der permanenten Unterdrückung und Gängelei seit der Mitte der 50er Jahre. Es stauten sich unbeschreibliche Gefühle über die unliebsame Situation auf. Die Situation eskalierte dann 1968.

Im Jahr 1968 gab es dann keine Möglichkeit mehr in der Turnhalle zu trainieren. Die Räder wurden aus der Turnhalle rausgeholt und bei Wilhelm Wolf untergestellt. Einige Sportler haben noch eine Zeit lang beim Radsportverein Undenheim weitertrainiert. Meine Eltern hatten mir damals ein neues BAUER 1er Kunstrad gekauft. Trainieren musste ich in unserem betonierten Hof. Der gusseiserne Gullideckel musste dann bei jedem Training zunächst gedreht werden. Viele Stürze auf gutem Beton.

Innerhalb des Vereins war die Stimmung gut. Eine gute Gemeinschaft und motivierte Mitglieder. Ein kleines Wunder! Es entstand eine „jetzt erst recht“ Stimmung.

Nachdem der Radsportverein 1963 unter dem Vorsitz von Reinhold Kissinger wieder selbständig war, hat der Verein, trotz allen Schwierigkeiten, mit 68 Personen an einem unvergesslichem Blumenkorso teilgenommen und den 1. Platz erreicht. Einige Radballmannschaften erreichten gute Platzierungen. Überall gab es viel Motivation und Bereitschaft sich für den Verein einzusetzen.

Da kein Training ab 1968 mehr möglich war, gab es für die damaligen Radfahrer nur die Flucht nach vorne.

Die ganzen Verletzungen wurden kanalisiert und nach ganz vielen Gesprächen untereinander, wurde dann der Entschluss gefasst, eine eigene Radsporthalle zu bauen! Eine ganz ausgeprägte Gruppendynamik entstand!

Eine Entscheidung unter maximaler Unsicherheit!

Keiner hätte an eine solche Wendung gedacht. Es gab kein Finanzpolster, nur Ideen im Kopf. Aber die Männer um Reinhold Kissinger waren besessen von der Idee und haben sich alles zugetraut.

Es entstand eine starke Gruppenbildung!

Was danach folgte, ist ein Lehrstück darüber, zu was Menschen, für ein für sie bedeutendes Projekt, zu leisten imstande sind (Gruppenkohäsion). Eine Gemeinschaftsleistung, die heute kaum vorstellbar ist.

GRUNDSTÜCK UND PLANUNG

Zum Zeitpunkt der Entscheidung zum Bau der Halle war in Selzen die Flurbereinigung. Der Landwirt Wilhelm Wolf lies einen Acker im Rahmen der Flurbereinigung extra direkt neben das Grundstück von Hans und Toni Kissinger am Ende der Bahnhofstrasse legen. Den oberen Teil hat Wilhelm Wolf unentgeltlich dem Radsportverein zum Bau der Halle zur Verfügung gestellt. Wäre der Bau nicht erfolgt, so hätte Wilhelm Wolf das Grundstück wieder nutzen können.

Das ging schon mal gut los! Ein eigenes, kostenloses Grundstück direkt am erschlossenen Ortsrand!

Es ging glücklich weiter, denn der Bauingenieur Adolf Heimlich übernahm die Bauplanung und zwar unentgeltlich. Ein Meilenstein.

Während der gesamten Bauphase war aber ein weiterer Architekt jederzeit für den RSV ansprechbar: Jost Strub, der in unmittelbarer Nachbarschaft der Halle wohnte.

BEGINN DES BAUES

Jetzt überschlug sich alles. Ein Bauplan musste her. Wahrscheinlich gab es schon die Idee, eine kostenlose Holzhalle aus Wiesbaden zu nutzen. Adolf Heimlich erstellte die Bauplanung und bald erfolgte die Baugenehmigung.

Bis jetzt war das Grundstück vorhanden und die Baugenehmigung. Aber sonst nichts.

Die Planung sah vor, dass ein massiver Keller unter der gesamte Hallenfläche zu bauen ist.

Vor der eigentlichen Halle waren die unterkellerten Wirtschaftsräume (Gastwirtschaftsraum, Küche mit Vorraum und Abstellraum) und im 1. Obergeschoss eine Empore mit Geländer zur Halle hin eingeplant.

Die Außenwand der eigentlichen Halle war massiv zu bauen bis zu einer Höhe von ca. 1,80m.

Darauf sollte dann die in Wiesbaden besorgte Holzhalle mit Fenstern und einem Nagelbinderdach draufgebaut werden.

Jetzt ging es los. Es wurde in die Hände gespuckt!

Zunächst musste aber der Erdaushub für den Keller erfolgen. Was jetzt folgte, ist typisch für viele Situationen während der Bauzeit. Plötzlich stellte die Firma Krebs aus Hahnheim unentgeltlich eine Raupe zur Verfügung. Hermann Schindel sorgte dann für den Aushub der richtig großen Menge sehr guter Erde. Es spricht für die Kreativität der Erbauer, dass sie unter den Landwirten und Winzern in der Umgebung die Nachricht verbreiteten, dass gute Erde kostenlos abgeholt werden kann. Das sprach sich rum wie ein Lauffeuer. Die Traktoren mit Rollen zum Abholen der Erde standen zeitweise in der Schlange.

Wie überhaupt bei allen jetzt anfallenden Arbeiten wurde kein Handwerker bezahlt, weil ja auch gar kein Geld da war. Die Kernmannschaft bestand aus Männern, die über ganz unterschiedliche, notwendige Fähigkeiten verfügten. Und außerdem hat sich jeder sowieso alles zugetraut. „Geht nicht“ fiel nie, wenn‘s schwierig wurde hieß es: „dess packe merr“.

Neben der Kernmannschaft gab es aber auch ganz viele, die sich je nach persönlicher Situation einbrachten. Wenn ich alle die vielen Helfer erwähnen wollte, wäre die Seite voll. Das wäre verwirrend. Aber kein Helfer ist vergessen und wurde auch bei vielen Gelegenheiten der Danksagung bedacht.

Nur die Kernmannschaft will ich kurz erwähnen:

Vorsitzender und Motor war Reinhold Kissinger, mit seinen Vereinskameraden:

Walter Schindel, Willi Koch, Roland Best, Edwin Schniering, Heinz Schniering, Erich Kissinger, Hermann Kissinger

Das waren völlig unterschiedliche Charaktere und völlig unterschiedliche handwerkliche sehr gut ausgebildete und erfahrene Männer.

Eins hatten sie gemeinsam: Willensstärke

Roland Best ist mit heute 83 Jahren, der letzte noch lebende Hauptmitwirkende. Unfassbare Geschichten über den Bau laufen heute noch vor seinem geistigen Auge ab. Man könnte ein kleines Büchlein schreiben.

Ich hatte bereits erwähnt, dass ab Beginn der Bauarbeiten für die Kern-Mannschaft eine neue Zeitrechnung begann. Jede freie Minute haben sie an der Halle „geschafft“. Ende der 60er Jahre waren die Aufbaujahre der Bundesrepublik. Arbeit in Hülle und Fülle. Und die meisten hatten noch kleine Kinder. Nur: die Männer waren an der Halle. Die Ehefrauen waren der emotionale Rückhalt, ohne den es nicht gegangen wäre. Über die Rolle der Frauen im Radsportverein komme ich später noch mal zurück.

Sehr wahrscheinlich wäre die Halle nie gebaut worden, wenn die Schaffer nicht den Rückhalt ihrer Frauen gehabt hätten.

Es mussten eigentlich nie groß Termine ausgetauscht werden. Die Erbauer waren sofort nach Arbeitsende in ihrer Firma an der Halle.

Rohbau

Selbstverständlich wurde der Rohbau in völliger Eigenleistung erstellt. Edwin Schniering war gelernter Maurer und hatte den Bau fest im Griff. Am 15.Mai 1969 erfolgte die Grundsteinlegung der eigenen Halle. Hier haben auch viele sporadische Helfer mitgewirkt.

Es war schon eine gewaltige Menge an Beton für die große Bodenplatte, die Decke im Erdgeschoss und der Decke im 1. Geschoss über Gastraum und Küche notwendig. Kein Problem. Im Keller auf der Seite Richtung Hahnheim wurde ein langer Raum abgemauert, der damals als Kegelbahn geplant war. Dieser wurde anfangs als Papierlager benutzt.

Alles wurde vom Team und den vielen Helfern selbst gemacht. Das war auch moralisch für die Hauptmatadore wichtig. Sie waren nicht die einzigen „Verrückten“, sie hatten ein gutes Potential an sporadischen Helfern.

Aufbau der eigentlichen Halle

Woher die Information kam, dass es die Chance geben soll, in Wiesbaden neben dem Hallenbad eine Halle kostenlos abzuholen, ist nicht klar. Aber die Halle wurde in Wiesbaden abgebaut und in Selzen auf den Rohbau gesetzt. Eine große Aufgabe. Aber für die Männer kein Problem. Erich Kissinger war gelernter Zimmermann, die komplette Halle bestand aus Holz, das Dachkonstrukt bestand aus Nagelbindern.

Die Halle war zunächst zweckmäßig und für den Anfang genau richtig, weil ja für die Anschaffung keine Kosten entstanden.

Eine große Aktion war auch der Einbau einer Heizung. Damit die Halle schnell vor dem Training erwärmt werden konnte, wurde eine Öl-Gebläse Heizung eingebaut. Die Heizung hat prima funktioniert. Es gab nur eine ordentliche Zugluft und laut war es auch.

Es wurden 24.000 geleisteter Arbeitsstunden festgehalten. Doch es war einiges mehr, denn dies waren nur die Zeiten an der Halle. Meist wurde auch daheim etwas vorbereitet, oder z.B. Altpapier bei Freunden und Verwandten geholt. Zur Einordnung: 10 Arbeitskräfte hätten bei einem 8 Stundentag 300 Tage arbeiten müssen, um die 24.000 Stunden zu erreichen. Es lässt sich auch nicht beschreiben, was die Männer so alles unternommen haben. Wenn z.B. Eisen gebraucht wurde, um ein Geländer herzustellen, so wurde so lange auf Schrottplätzen, meist in Mainz, gesucht, bis es passte. Es durfte kaum etwas kosten. Einige Geländer stehen heute noch.

Aber egal, endlich hatten die Radsportler ein Dach über dem Kopf, hatten genügend Platz und Trainingszeit, es war warm und sie hatten Platz für ihre Räder. Die Radballer hatten eine große Spielfläche mit selbstverständlich selbstgebauten Toren, die noch heute benutzt werden. Und schöne, saubere sanitäre Anlagen gab es auch.

Ein Bauwerk für die Ewigkeit war das aber nicht, das war schon klar.

Finanzierung

Erwähnt hatte ich schon, dass zu Baubeginn kein Geld da war. Es lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen, unter welchen Bedingungen der Rohbau erstellt werden konnte. Vermutlich wurde für die ersten Schritte ein kleiner Kredit aufgenommen. Es gab wohl etliche Materialspenden. Und es gab eine große Kreativität, um günstig Material zu beschaffen.

Der RSV hatte zwar Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge, aber es war ja kein großer Verein. Die Mitgliedsbeiträge waren gering. Als ich 10-11 Jahre alt war (also ca. 1963-1964), musste ich monatlich bei jedem Mitglied 50 Pfennig Mitgliedsbeitrag bar einkassieren.

Es gab keine Förder-Geldtöpfe. Es könnte sein, dass ein eher kleiner Geldbetrag vom Sportbund kam.

An Lohnkosten beim Rohbau ist ja gar nix angefallen. Beim Baumaterial muss einiges durch Spenden abgedeckt worden sein. Mehr lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Volkmar Rüger, der die Finanzen im Griff hatte, ist leider schon vor etlichen Jahren gestorben.

Plötzlich gab es jedoch eine überraschende Möglichkeit zu Geld zu kommen. Ende der 1960er Jahre war die Papierindustrie dankbar für Altpapier und zahlte gut.

Volkmar Rüger, einer der erfolgreichen 4er Kunstradfahrer und Sohn von Albert Rüger, arbeitete bei der Papierfabrik HAKLE in Mainz. Altpapier wurde zur Herstellung von Toilettenpapier dringend gebraucht. Über einige Jahre sammelte der RSV in Selzen und durch Freunde und Verwandte im ganzen Umkreis von Selzen Altpapier. Kaum zu glauben, aber wahr. Es wurde Altpapier auch von verschiedenen Schrottplätzen abgeholt. Besonders wichtig dabei war, dass nur flexibles Papier abgeliefert werden durfte. Feste Buchdeckel mussten abgerissen werden. Kreativität ohne Ende: Am Vortag einer Sperrmüllabfuhr in Nachbarorten, fuhr ein Team mit Traktor und Anhänger durch die Gassen und sammelte das Papier, das dann wieder in der Radsporthalle gebündelt wurde. Keine Arbeit war zu viel.

Das gebündelte Altpapier wurde mit Traktor und Anhänger zur Ingelheimer Aue in Mainz zu HAKLE gefahren. Das war jedes Mal eine richtig anstrengende Aktion, die Fahrt ging ja durch die komplette Innenstadt von Mainz mit Traktor und knüppelvollem Anhänger (Rolle). Norbert Krebs, Armin Binzel und Hans Albrecht nahmen den Stress auf sich. Auch der Landhandel Seeman hat den Verein mit LkW-Transporten zu HAKLE und einer Papierfabrik in der Eifel unterstützt.

Das Papier musste gebündelt abgeliefert werden. Die Hauptbündeler waren Adolf Geil, Karl Hinkel und Johann Schwamb. Sie haben lange Zeit jeden Nachmittag per Hand Bündel von Papier mit „Strohkordel“ verschnürt.

Später konnte Volker Neunecker eine (aussortierte) Bündelmaschine von der Deutschen Post besorgen. Das war eine große Hilfe.

Ein Geldsegen für den Verein!

Nach Fertigstellung der Halle kam dann die größere Geldeinnahmequelle: Tanzveranstaltungen in der neuen Radsporthalle mit z.B. der Musikband „The Preachers“.

Die Hütte war jedes Mal proppenvoll. Die Frauen und viele Helfer waren notwendig, um das zu stemmen. Selbstverständlich gab es auch viele Veranstaltungen zur Fassenacht und Kerb.

Später waren es Veranstaltungen mit zwei Musikern aus dem Odenwald. Das hatte Lutz Dörsam langjähriger, verdienstvoller Vorsitzender, organisiert.

Nach der Einweihung

Die Einweihung war 1972.

Endlich hatten die engagiertesten Männer ihr großes Ziel, für das sie jahrelang geschuftet hatten, erreicht. Für die Sportler begann eine neue Zeitrechnung.

Endlich war Platz da und ein stressfreies Training war jetzt möglich.

Die eigene Halle stand

Die Erstellung der Halle hatten die wenigsten in Selzen dem RSV zugetraut. Die letzten im Vereinsgefüge hatten es jedem Zweifler gezeigt. Eine Riesengenugtuung!

Nach einigen Jahren kamen aber leider atmosphärische Störungen unter den Erbauern auf.

Für die Soziologie ist das ein bekannter Vorgang. Charakterlich verschiedene Menschen haben ihre ganz eigenen Bedürfnisse einem großen Ziel untergeordnet. Es lastete ja ein Riesendruck auf ihnen, das Projekt zum Erfolg zu führen. Jetzt war der Erfolg da, die Luft war raus, der Druck war gewichen. Und dann war dann auch in bescheidenem Maßstab Geld da. Jetzt kamen Meinungsverschiedenheiten auf. Es begann ein Gruppenzerfall.

Nach und nach verabschiedeten sich die Erbauer. Ein trauriges Kapitel des Radsportvereins!

Etwa 10 Jahre nach Einweihung begannen erste Renovierungsarbeiten. Im Laufe der letzten 30-40- Jahre wurden dann die Fenster erneuert, ein neuer Hallenboden wurde erstellt, das Dach erneuert, die Dachfläche wurde zur Installation einer Solaranlage vermietet.

Eine Riesenbaustelle war auch die komplette Sanierung der Sanitärräume im Keller. Superviel Arbeit und wieder waren Männer da, die ähnlich wie die Erbauer, unendlich viel investierten, um das zu stemmen. Es waren vor allem Heinz Borg (aktiver Radballer und auch jahrelang Vorsitzender) mit seinem Freund Walter und Heinz Bender, dem Ehemann der Kunstfahrtrainerin Christa Bender. Ohne solche Leute kann kein Verein existieren.

Ein Highlight in den Jahren nach Einweihung muss erwähnt werden:

Die langjährigen Weltmeister im Radball, die Brüder Jan und Jindrich Pospisil (20mal Weltmeister) aus der damaligen Tscheslowakei, nahmen an einem Radball-Turnier in Selzen teil. Ganz, ganz nette Brüder, die die Radsporthalle an diesem Abend rockten. Es war das größte Sportereignis für den Verein. Bei jedem Besuch in Deutschland (z.B. beim jährl. ETEX-Preis in Hechtsheim) kamen sie mit vielen günstigen Schlauchreifen für die Radballräder und Radbällen. Heißbegehrt.

Die Halle stand, sie konnte finanziell gehalten werden. Kunstradsport war wieder am Laufen. Die Radfahrer waren nicht mehr die Underdogs, sie hatten sich Achtung verschafft. Zum besseren Verhältnis in der Gemeinde trug mittlerweile auch eine liberalere Gesellschaft bei. Durch eine neue Generation von Vorsitzenden entspannte sich das Verhältnis zum Radsportverein. Die traditionelle Verbissenheit war weg. Die Radsporthalle ist heute aus dem gesellschaftlichen Leben von Selzen nicht mehr wegzudenken.

Soweit ich das von außen mitkriege, gibt es mittlerweile ein gutes „Arbeitsklima“ zwischen den Vereinen.

Zwischendurch trat sogar die Situation ein, dass der RSV dem Turnverein „über Nacht“ helfen konnte, da bei einer Untersuchung der Turnhalle gravierende Mängel festgestellt wurden und eine sofortige Schließung der Turnhalle erfolgte. Am nächsten Tag nach der Sperrung der Turnhalle konnte der Turnverein den Jahrestag „Wandern 2014“ in der Radsporthalle abhalten. Welche Wendung im Verhältnis der beiden Vereine im Vergleich zu den End 60er Jahren!

Seit 1972 wird in der Radsporthalle Tischtennis gespielt.

Gespielt wird bis heute. Vor einiger Zeit kam ein neuer Sport hinzu: Steel Dart. Der Verein passt sich der Zeit an.

Hallenradsport war und ist eine Randsportart. Aber doch muss etwas dran sein. In etlichen Ländern Europas gibt es Kunstradsport. So ist es etwa auch mit Radball. Heinz Borg mit seinen Söhnen Andreas und Matthias halten Radball noch am Laufen. Und derzeit gibt es sogar Nachwuchs-Mannschaften. Ansonsten gäbe es diesen Sport nicht mehr in Selzen.

Der Kunstradsport beschränkt sich auf das 1er und 2er und 4er Kunstradfahren der jüngeren, ausschließlich Mädchen. Christa Bender ist die Trainerin und das schon seit 4 Jahrzehnten!!! Ein Training ist richtig anstrengend, weil gleichzeitig etliche Kinder beschäftigt werden müssen. Ein ziemliches Gewusel. Wie Christa das so lange, mehrmals die Woche, durchhalten konnte, ist schwer zu verstehen.

Ohne sie gäbe es im Verein schon lange kein Kunstradfahren mehr. Jetzt hat sie dafür gesorgt, dass eine jüngere Frau das Training der Mädchen übernimmt.

Mein Bericht ist eigentlich hier zu Ende. Aber ich muss noch 2 Aspekte erwähnen:

Albert Rüger

Der 1. Vorsitzende zur Gründung 1925 war Georg Rüger. 10 Jahre später musste er sich krankheitsbedingt zurückziehen. Sein Sohn Albert Rüger war dann 1. Vorsitzender bis zum Beginn des 2. Weltkrieges.

Bei vielen Personen hätte ich in dem Bericht schreiben können: ohne ihn oder sie gäbe es den Verein nicht mehr.

Aber ohne Albert Rüger gäbe es den Verein tatsächlich nicht mehr. Ich habe ihn bis zu seinem Tod etwa 30 Jahre gekannt. Er war ein „Hans Dampf in allen Gassen“. Ihm wurde durch seinen Vater die Aufopferungsbereitschaft für den RSV in die Wiege gelegt. Tag und Nacht für den Verein ansprechbar, dabei immer freundlich und aufgeschlossen. Engagiert „bis zum geht nicht mehr“ Einige Jahre hat er uns Jungs in der Turnhalle trainiert.

Trainiert hat er bis zu seinem 78. Lebensjahr. Er war es auch, der Christa Bender als Trainerin „klar“ gemacht hat.

Er war ein Ausnahmemensch, der den Verein zusammenhielt. Er war eine Integrationsfigur, mit der es alle gern zu tun hatten und der den Laden am Laufen hielt.

Die Frauen im Radsportverein

Die Vereinsführung in den Vereinen war bis in die 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts ausschließlich Sache der Männer. In Deutschland wurde es Frauen in manchen Sportvereinen erst in den 1970er Jahren erlaubt, Mitglied zu werden. Heute unfassbar.

Wie wichtig die Frauen für den Radsportverein waren, zeigte sich mit Beginn des Hallenbaus.

Plötzlich waren die Männer nicht mehr zu Hause. Obwohl es super viel Arbeit in den Aufbaujahren in den Firmen und auch privat gab. Und die Kinder mussten ihren Vätern in die Halle hinterherlaufen. Ohne die Unterstützung der Frauen hätten die Erbauer ihr Ziel nicht erreicht. Nach meinem Empfinden war z. B. Roland Best „nie“ zu Hause. Er war immer an der Halle, ein Tausendsassa und vor allem für die vielen Malerarbeiten verantwortlich. Ohne die Toleranz seiner Frau Gisela wäre das nicht möglich gewesen.

Aber die Frauen haben auch beim Ausbau der Halle Hand angelegt, z. B. beim Fensterstreichen.

Nachdem die Halle stand, lief der Trainingsbetrieb wieder. Margot Kissinger, die zuvor schon in der Turnhalle das Kunstfahren trainiert hat, war lange Jahre Trainerin! Große Verdienste für den Verein!

Die ganzen Veranstaltungen wären ohne die Frauen nicht zu stemmen gewesen. Fast Food gab es noch nicht. Die Küche wurde gut genutzt. Unzählige Stunden hat Toni Kissinger in der Küche verbracht mit vielen Helferinnen, vor allem Helma Koch und Hedwig Kissinger. Aber sporadisch waren 10-15 Frauen im Einsatz.

Das Kunstradfahren beschränkte sich dann im Laufe der Zeit mehr oder weniger auf das Training von Mädchen. Nach Margot Kissinger trainierte auch Alber Rüger und danach Christa Bender dann die Mädchen. Und das jetzt schon jahrzehntelang. Ohne Christa Bender gäbe es kein Kunstradfahren in Selzen mehr. Die Dorfgemeinschaft in Selzen wäre ein Stück ärmer.

Heute, im Frühjahr 2025 ist der Radsportverein 1925 e.V. meiner Empfindung nach, gut aufgestellt. Christa Bender hat ihre Familie motiviert, mitzuziehen. Ihr Mann wurde als großer Helfer bereits erwähnt. Ihr Schwiegersohn, Carsten Schimschal ist 1. Vorsitzender und Christa im Vorstand Schriftführerin.

Seit ewigen Zeiten gilt:

Nichts bleibt bestehen, alles verändert sich!

Nach 100 Vereinsjahren bin ich froh, dass die Veränderungen so ausgegangen sind!

Es war eine einmalige Situation, dass etwas Derartiges entstehen konnte. Aber der RSV kann froh sein, dass es zu jeder Zeit außerordentliche Mitglieder gab und gibt, die ihre kostbare Freizeit für den Verein einsetzen.

Vielleicht gibt es ja jüngeren Menschen unter heutigen, ganz anderen Bedingungen, etwas Mut, ein Projekt für die Gemeinschaft anzupacken. Es kann gelingen!


Verantwortlich für diesen Text

Für den Inhalt verantwortlich: Klaus Schniering, 55413 Weiler, Zum Kellerpfad 8, Frühjahr 2025




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